Eine passende Definition der Kunst zu finden ist bereits ein Kunststück.
Immer wieder wundere ich mich, wie schnell manche Definitionen von Kunst gefunden werden und wie überzeugt die Erschaffer dieser Definitionen davon sind, dass ihre Kunstdefinitionen allgemein gültig und, vor allem, allgemein verständlich sind.
Wissend, dass selbst simple Aussagen unterschiedlich verstanden werden, muss zwangsläufig vor jedem Versuch einer Definition von Kunst eine Analyse des soziokulturellen Umfeldes und des Sprachverständnisses erfolgen.
Bezüglich der meisten gängigen Überzeugungen und Klischees verweise ich auf die Enzyklopädie Wikipedia zum Thema Kunst. Ich möchte mir ersparen, Definitionen wie
„Das Wort Kunst bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist (Heilkunst, Kunst der freien Rede). Im engeren Sinne werden damit Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeit benannt, die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind. Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Das Kunstwerk steht meist am Ende dieses Prozesses, kann aber seit der Moderne auch der Prozess selber sein.“
zu analysieren und kommentierend zu erweitern. Ich möchte auch nicht die Kunst des Schimpansen Congo mit jener mancher Menschen - Künstler vergleichen und in Wettstreit treten lassen.
Sicherlich, eine ganz simple Definition von Kunst könnte lauten:
Kunst ist jedes Lebenszeichen, das einem Tier nicht zugemutet wird.
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Das Ergebnis weiterer Überlegungen mündet in der Gleichung
Kunst = Beliebiges × Überzeugungskraft zum Quadrat
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Überzeugungskraft zum Quadrat können wir durch Kunstkritik ersetzen:
Kunst = Beliebiges × Kunstkritik
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Es ist sehr logisch, dass ein Lebewesen, das nicht fast den ganzen Tag mit Selbsterhaltung und gelegentlich mit Arterhaltung beschäftigt ist und überdies etwas – im doppelten Wortsinn – begreifen kann, sich die Zeit auch mit nicht unmittelbar zweckdienlichen Handlungen vertreibt. Ob es dann beim reinen Zeitvertreib bleibt oder sich aus diesem Umstand etwas – im reinsten Wortsinn – Großartiges ergibt, ist in weiterer Folge die Frage, deren Beantwortung entscheidet über Evolution oder Regression.
Kleinkinder, die sich nicht mehr bewusst mit den elementarsten körperlichen Entwicklungen (Gehen, Greifen, erstes Sprechen) beschäftigen müssen und die nicht anderweitig unter Stress stehen, wenden sich den ersten „künstlerischen“ Betätigungen zu: Sie bekritzeln sinnlos (?) Blätter und zeichnen irgendwann Strichmännchen. Aber sind sie deswegen Künstler? Doch, ja, sie sind es. Wie sonst wäre es möglich, dass sinnlose (?) Kritzeleien mancher Erwachsener als große Kunst vermarktet wird? Oh nein, ich vergaß zu erwähnen, dass zur großen Kunst noch etwas ganz Spezielles gehört: Geld. Kinder bekommen für ihre Kritzeleien zumeist kein Geld, manche Erwachsene zufällig (?) schon.
Wenn wir uns in letzter Konsequenz, trotz aller angesagter Ironie, darauf verständigen würden, dass alles, was ein Mensch kann, Kunst sei, würde sich jede besondere Anstrengung hinsichtlich einer künstlerischen Betätigung erübrigen. Vielmehr müsste jeder Mensch Energie darauf verwenden, aus unerfindlichen (?) Gründen für ganz spezielle, unbenötigte Betätigungen Geld zu erlangen, um sich dann unverständlicherweise (?) als Künstler bezeichnen zu dürfen.
Oder wollen wir vielleicht einen sportlichen Gedanken in die Kunstdefinition einführen? Bitte sehr:
Kunst sind Betätigungen, deren künstlerisches Potential direkt proportional zum Trainingsaufwand steht.
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100 Meter in 9,7 Sekunden zu laufen, ist Kunst. Weiteres Stichwort: Kunsthandwerk.
Alle diese Kunstdefinitionen beschränken sich auf aus Materie geborene und in Materie ablaufende Prozesse. Der das Kunstwerk Schaffende ist beliebig austauschbar. Interessiert es Sie, wer die Blümchen auf Ihrem Augarten - Porzellan gemalt hat? Oder: Irgendwann wird ein anderer die 100 Meter noch schneller laufen können. Derartige Sensationen sind zwar groß, aber doch begreifbar und nachvollziehbar. Die Werke eines Michelangelos mit gleicher geistiger Ausstrahlung zu wiederholen, erscheint kaum vorstellbar. Schubert ist einzigartig. Mozart ist einzigartig. Deshalb werden diese Kunstschaffenden für die Nachwelt so interessant. Es wird versucht, die Faszination eines Kunstwerkes über eine Analyse des Lebensweges jener Person, die dieses Werk geschaffen hat, begreifbar zu machen. Solche Versuche sind zum Scheitern verurteilt, weil die Befähigung zu derartiger Kunst weder im Umfeld des Künstlers zu finden noch durch dessen Talent allein begründbar ist.
Somit kann klar abgeleitet werden, dass noch eine ganz wesentliche Dimension hinzutritt, die bei allen bisher von mir angeführten Kunstdefinitionen außer Acht gelassen wurde, nämlich die geistige Dimension des Logos, die sich dem um Erkenntnis Ringenden erschließt.
Jedes die jeweilige Zeit überdauernde Kunstwerk strahlt diesen unfassbaren und doch allgegenwärtigen Geist aus und verursacht einen ganz speziellen „Gänsehauteffekt“. Und immer wieder bewahrheitet es sich, dass exzessives Bemühen um technische Vervollkommnung einer Tätigkeit und / oder verantwortliche Lebensführung von einer Begnadung begleitet wird, die der Lohn für mühsam errungene Erkenntnisse und Fähigkeiten zu sein scheint.
Unter Einbeziehung all dieser Überlegungen gelingt es, eine weitere Definition von Kunst zu finden:
Kunst erschließt übersinnliche Dimensionen.
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Oder, um mit Goethe zu sprechen:
Alles Vergängliche
ist nur ein Gleichnis; | | alle Materie |
das Unzulängliche,
hier wird's Ereignis; | | unser Leben |
das Unbeschreibliche,
hier ist's getan; | | die Kunst |
das Ewig-Weibliche,
zieht uns hinan. | | die Liebe |
Kunst befruchtet Materie. Liebe befruchtet – im doppelten Wortsinn – das Leben. Hier erkennen wir eine ganz spezielle Form der Evolution: Materie – Leben – Kunst – Liebe
Die Materie, das „Vergängliche“ ist ein Gleichnis einer immateriellen Logosdimension. Übersinnliches erschließende Kunst befähigt Menschen zu vollendeter Liebe.
© Michael Paulus, 2008