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Reden

Der leichte Genuss

 
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Je mehr sich ein Mensch ausschließlich über seine objektivierbaren Körperempfindungen erlebt, umso deutlicher wird die Sucht nach schneller Befriedigung, die möglichst ohne große Umwege oder gar Anstrengungen zum Ziel führen soll, wobei das Ziel in den meisten Fällen nicht klar beschrieben werden kann und Hilfsausdrücke wie „Spaß haben“, „glücklich halt“ oder „cool“ verwendet werden. Dass es in letzter Konsequenz immer um den Endzweck der Selbst- und Arterhaltung geht, ist sonnenklar, weshalb auch das meiste Geld mit jenen Bereichen zu verdienen ist, die jene Zwecke bedienen: food und non-food und alles, was eine sexuelle Erfüllung verspricht.

Die gesamte Unterhaltungsindustrie wird getragen von der Sucht nach sofort körperlich spürbaren Ergebnissen einer Belustigung. Eine Musik, die mit vibrierender Rhythmik den Körper massiert und den Takt für orgastisches Einschwingen vorgibt, kann ohne großartiges Nachdenken oder Unbehagen auslösen könnende, „verstörende“ Komponenten „unisexuell“ vermarktet werden. Nach wie vor vorhandene Restbestände von Liebesgefühlen, die nicht mehr unmittelbar objektivierbar sind, bedient derartige Unterhaltungsmusik über eine einprägsame kurze Melodie bzw. ein Motiv, das trotz einer kleinen, aber tiefenpsychologisch und unbewusst bleibenden, sehr bedeutsamen harmonischen Dur - Moll - Rückung ohne großartige Anstrengung nachvollziehbar bleibt. Aber all diese Melodien oder Motive werden zumeist kaum wahr genommen, wenn man sie der rhythmischen Komponente und der perfekten Darbietung oder ihrem Wiedererkennungswert beraubt.

In einer Zeit und Gesellschaft, die sich überwiegend im Jetzt wiederfindet und das Leben als absichtslosen glücklichen Zufall betrachtet, das Mann und Frau möglichst trauerfrei bis zum möglichst schmerzlosen Ende in vollen Zügen genießen können sollte, wird Liebe nicht mehr als überirdische Anmutung der Sinne empfunden, sondern als objektivierbares und messbares Ergebnis biochemischer Körperreaktionen definiert. Deshalb ist es auch naheliegend, dass Suchtverhalten entstehen muss: Wenn ein Mensch gelernt hat, dass eine bestimmte Handlung ein Wohlgefühl auslöst, wird er bestrebt sein, diese Handlung zu wiederholen, vor allem dann, wenn er ohne dieses Wohlgefühl in depressive Stimmung verfällt.

Die Ausweglosigkeit des Strebens nach beliebig nachvollziehbarem „Glücks-Konsum“, welches stets schwerste Lebenskrisen auslöst, sollte allein schon ein Beweis dafür sein, dass es offensichtlich noch andere Lebenskomponenten geben muss, die nicht mehr in der Körpermaterie allein beheimatet und daher auch nicht von dieser aus zu bedienen sind. Es sind dies jene geistigen Bereiche, welche die meisten Menschen im Zuge der phylogenetischen Entwicklung während der Phase der Bewusstwerdung von Zusammenhängen und der noch nicht vollzogenen Verarbeitung der aus diesen Zusammenhängen resultierenden Erkenntnisse nur sehr schwer gedanklich nachvollziehen können. Es sind dies jene zuvor erwähnten Anmutungen der Sinne, welche von Außen, quasi aus dem Nichts kommen, welche psychisch etwas bewirken, was sonst nur unter Zuhilfenahme von Drogen oder sexueller Handlungen kurzfristig erlebbar ist: ein „Gefühl“ von Bewusstseinserweiterung und der empfundenen Sicherheit, dass einem nichts geschehen kann, was immer auch geschehen mag. Es ist dies in letzter Konsequenz die, ähnlich der Gravitation, erlebbare, aber nicht naturwissenschaftlich letztendlich erklärbare und berechenbare Empfindung von Ewigkeit, weil sie – wie die Gravitation – nicht ihren Ursprung, sondern ihr Ziel in der Materie hat.

Was hat die sogenannte "ernste Musik" der lockeren und leichten Genießbarkeit von Musik mit Spaß-Garantie entgegen zu setzen? Denjenigen, die das Sensorium für Metakörperlichkeit verloren haben: nichts! Denjenigen, die sich bewusst oder unbewusst die Sinnfrage und der Ewigkeit stellen, - im wahrsten Wortsinn - unendlich viel.

Musik, die nicht mit der Absicht, primär Spaß zu bereiten, sondern mit dem Wunsch, „Unfassbares“ zu thematisieren, komponiert wird, wird den dafür Unzugänglichen langweilen und den mit sich und der Welt Ringenden „verstören“, den Suchenden oder Wissenden jedoch beglücken.

Die Frage, welche Art von Musik den als Titel dieser Rede gewählten „leichten Genuss“ bietet, ist somit nicht eine Frage des Musikstils, sondern eine Frage, die jeder Zuhörer nur für sich selber beantworten kann, je nachdem, auf welchem Entwicklungsstand er sich wähnt.

Abschließend ist es vielleicht fast überflüssig zu erwähnen, dass die werte Zuhörerschaft an die Stelle der Musik auch das Wörtchen Liebe stellen darf: Was hat die sogenannte "reine Liebe" der lockeren und leichten Genießbarkeit von ausschließlich körperlicher Liebe mit Spaß-Garantie entgegen zu setzen? Denjenigen, die das Sensorium für Metakörperlichkeit verloren haben: nichts! Denjenigen, die sich bewusst oder unbewusst die Sinnfrage und der Ewigkeit stellen, - im wahrsten Wortsinn - unendlich viel.

Somit stelle ich fest: Kunst und Liebe können bei entsprechend gestimmten Menschen Unendlichkeit und Ewigkeit und die Sehnsucht nach diesen nicht materialisierbaren Werten über den „siebten Sinn“ erfahrbar machen.

© Michael Paulus, 2010

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