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Seltsamerweise glauben viele Menschen, dass die Vermittlung von Gefühlen ohne jede Anstrengung und ohne Übung möglich sei. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass der Mensch jedem Tier – und damit auch sich selber – unterstellt, dass es nie seine Verhaltensäußerungen üben oder gar lernen müsse. Gefühle habe man ganz einfach. Nun, es stimmt auch, dass man Gefühle ganz einfach hat. Kein Tier muss sich darum kümmern, wie diese Gefühle beim Artgenossen ankommen, weil es nur jene Gefühlsäußerungen lebt, die ihm natürlich – biologisch immanent sind und die deswegen auch natürlich unmissverständlich vom Artgenossen erkannt werden. Menschen, die sich unbewusst mehr dem Tier – Sein verpflichtet fühlen als sich bewusst der Anstrengung unterziehen wollen, ihr Mensch – Sein zu leben, werden in ihren Gefühlsäußerungen von gleich gestimmten Menschen auch selten missverstanden. In diesem Zusammenhang wird wohl auch Sigmund Freuds Meinung durchaus zutreffend sein, der zufolge jedes Gefühl dem Lust-Unlust-Prinzip folgt. Jene Menschen, welche den Auftrag zur Menschwerdung in ihrem Leben ernst nehmen, können sich jedoch nicht mehr so einfach darauf verlassen, dass ihre aus Überlegungen resultierenden, „kulturellen“ Gefühle automatisch von ihren „Art“-Genossen richtig verstanden werden oder gar bei jenen ähnliche Gefühle auslösen können. Ich habe „Art“ unter Anführungsstriche gestellt, weil diese „Art“ in diesem Zusammenhang durchaus doppelsinnig verstanden werden darf, nämlich sowohl im Sinne der biologischen Art als auch im Sinne der Kunst – Art. Schon Erich Fromm hat von der „Kunst des Liebens“ geschrieben. Das Praktizieren einer hoch entwickelten, erotischen zwischenmenschlichen Liebe ist wahrlich eine Kunst, die nur mehr das anatomisch-morphologische Substrat mit tierischer Sexualität gemein hat. Jedoch sind die Handlungen, die zum Ziele der Gefühlsvermittlung gesetzt werden, kunstvoll und beschreiben letzten Endes das, was Menschen aus dem Tierreich erheben sollte, nämlich die bewusste Reflexion über die Sinngebungen des menschlichen Lebens, die da sind: Gott, Unendlichkeit und Liebe. Diese Dreieinheit begegnet uns auch im Hoch, Ebenhoch und Dritt in der nordischen Mythologie der Edda und im christlichen Glauben als Vater, Sohn und heiliger Geist. Eine allen Dingen übergeordnete, absolut unfassbare, unnahbare und unbeschreibliche Gottheit (Hoch bzw. Vater) bietet die Möglichkeit, sie mittelbar über die Sinnesanmutungen der gegen das makrokosmische Firmament gerichteten Antizipation von Unendlichkeit und Ewigkeit (Ebenhoch bzw. Sohn) und das wesensverwandte mikrokosmische Äquivalent einer vergegenständlichten bzw. verpersonifizierten Liebe (Dritt bzw. heiliger Geist) zu erfahren. Je intensiver diese „Gotteserfahrungen“ wirken sollen, desto intensiver muss die im Vorfeld unternommene Anstrengung sein: Menschen bauen Teleskope und ergehen sich in Relativitätstheorien, um Gott indirekt zu erfahren. Menschen verlieben sich ineinander, um die „Liebe Gottes“ zu erleben. Und dann gibt es noch eine Spezies gänzlich „verrückter“ Menschen, nämlich Künstler, denen das alles nicht genug ist. Sie entwickeln eine Kunstform, die dem Suchenden und Wissenden neue Wege zu Gott eröffnen kann. In diesem Zusammenhang sei exemplarisch Michelangelo erwähnt, der unter schwierigsten Bedingungen an seinen Fresken arbeitete und - vielleicht in diesem Zusammenhang - folgende Aussage formulierte: „Der geht nicht im Rock des Eingeweihten, der nicht an die Grenzen ging von Kunst und Leben.“ Die Gotteserfahrungen, die Menschen monotheistischen Glaubens in einer Kirche, in einer Moschee oder einer Synagoge erleben, sind erhebend, weil sie in kunstvollen und mühsam errichteten Gebäuden mit großer Ausstrahlung praktiziert werden. Pantheistischen Glauben erlebt man dort, wo Gott direkt wirkte und wirkt: im Kosmos und in der irdischen Natur. Dabei handelt es sich um, im wahrsten Wortsinn, Naturgewalten. Liebe erlebt der neuzeitliche, romantisierte Mensch gerne in einer geschlechtlichen Beziehung mit einem geliebten Menschen, dessen mehr oder weniger schöne Gestalt den Schöpfungsgedanken Gottes vermittelt und erst zur Triebfeder der Liebe werden lässt. Wir sehen also: Immer wieder bedarf es großer Anstrengungen, bevor etwas Hohes die Sinne hoch anmuten kann. Derart aufbereitet, gelingt es mir vielleicht, die Frage noch verständlicher werden zu lassen, wieso immer wieder vermutet wird, die „Gefühle“ der hohen bzw. „siebten“ Sinnesanmutungen Gott, Unendlichkeit und Liebe könnten bar jeder Anstrengung vermittelt werden. Welch raffinierter Technik bedarf doch das menschliche Erleben der Sexualität, wenn diese nicht nur zur Nachkommenszeugung oder Triebbefriedigung dienen, sondern gleichzeitig Liebe kunstvoll und glaubwürdig vermitteln können soll! Leider vermuten sehr viele Leute, dass sexuell vollzogene Liebe angeboren sei. Mitnichten! Triebbefriedigungshandlungen sind angeboren, nicht jedoch sexuell vollzogene Liebe. Wir alle bewundern gute Schauspieler/innen, unter anderem und nicht zuletzt bei Liebesszenen. Aber wir erkennen nicht, dass wir ebenso gut spielen können müssen, um unsere Liebesempfindungen dem Partner glaubwürdig vermitteln zu können. Die frische Verliebtheit einer noch kurzen Beziehung fördert offensichtlich das Naturtalent der kunstvollen Liebesbekundung. Doch wenn die Verliebtheit zu Ende geht, bleibt nur mehr die nackte Wahrheit bestehen, weil die Partner im Liebes -Spiel nicht geübt sind. Das Liebes - Spiel war das Stichwort zur längst fälligen Hinwendung zum Komponieren und Interpretieren von musikalischem Spiel: Die beste Technik des Komponierens und die beste mechanische Technik des schnellen und fehlerfreien Spielens sind hohle, sportlich anmutende Betätigungen, wenn sie nicht von einem schöpferischen Gedanken getragen werden, der sich die Technik untertan macht. Umgekehrt können jedoch die best gemeinten Überzeugungen von z. B. Liebe nicht vermittelt werden, wenn das technische Rüstzeug fehlt. Die Anweisung an einen Pianisten, „gefühlvoll“ zu spielen, zeigt, dass offensichtlich die Meinung besteht, man müsse sich für gefühlvolles Spiel nur in eine Stimmung versetzen, einer besonderen Anstrengung und Technik hierfür bedürfe es nicht. Das ist jedoch ein großer Irrtum. Der Tenor Fritz Wunderlich war bereits ein gefeierter Sänger und unterzog sich dennoch der Mühe, mit dem Pianisten Hubert Giesen Schubert- und Schumann- Lieder minutiös zu erarbeiten. Dabei wurde an kleinsten Techniknuancen gefeilt. Das Ergebnis waren letzten Endes eine perfekte Intonation und perfekt ausbalancierte Lautstärken, die letztlich die großen und kleinen Melodiebögen wie eine Tonskulptur entstehen ließen. Der Pianistin Zsuzsa Varga gelingt es, selbst in technisch schwierigsten und dennoch nie oberflächlich wirkenden Passagen von z. B. Skrjabin – Kompositionen die innewohnenden Melodie- und Harmoniedeutungen durch diffizilste Anschlagsnuancen und auf den ominösen Punkt gebrachte Einsätze auferstehen zu lassen. Lautstärke entsteht bei ihr nicht durch ein – von Schubert so gehasstes – „auf die Tasten Hacken“, sondern entlädt sich in der Entspannung gespannter Erwartung derart explosiv, dass der Zuhörer die Dynamik mehr fühlt als hört. In ihrem Spiel ist das Klavier nicht mehr Selbstzweck virtuoser Darstellung, sondern Mittel zum Zweck des Transportierens musikalisch formulierter Philosophie (z. B. bei Skrjabin) bzw. Mathematik (z. B. bei Bach). Auch Vertreter der Popularmusik vom Schlage eines Frank Sinatra oder Dean Martin haben hart an ihrer Gesangeskunst gearbeitet. Was wie selbstverständlich erscheint und daher so viele Leute zur Nachahmung mit zumeist grausigem Klangergebnis anregt, ist in Wahrheit das Ergebnis beinharten Techniktrainings. Was all die genannten Beispiele hervorragender Interpretationskunst gemein haben, ist die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Interpreten bei gleichzeitig vollkommenem Zurückstellen der eigenen Person; wie eben auch die besten Schauspieler jene sind, die nicht nur sich selber spielen. Diese Feststellung scheint ein Widerspruch zu sein – und ist es eben doch nicht. So ist z. b. Frank Sinatras Stimme sofort zu erkennen, aber die Texte, die er interpretiert, erklingen höchst unterschiedlich, und zwar immer so, wie es sich der Komponist vorgestellt hatte; wenn sich nicht Sinatra in späteren Jahren oftmals erlaubte, bei öffentlichen Auftritten manche Interpretation deutlich erkennbar scherzhaft anzulegen, weil ihm so manche populär gewordene Evergreens bereits, im wahrsten Wortsinn, beim Hals heraushingen. Die wahre Qualität Sinatras hört man in ernsthaften Aufnahmen, bei denen sein Gesang in jeder Nuance passt und sich den Intentionen des Komponisten und Arrangeurs unterordnet. Ähnliches gilt für die norwegische Komponistin, Texterin und Sängerin Kari Bremnes, die ich in meiner Rede „Der Logos in der Musik“ ausführlich erwähnt habe. Selbstverständlich sind all die Genannten nur persönlich motivierte Beispiele für viel andere produzierende oder reproduzierende fundierte Künstler/innen in diversen Genres. Jedes menschliche Handeln, das nicht den alltäglichen Notwendigkeiten zuzuordnen ist, sollte letzten Endes fundierten Überlegungen folgen. Jedes Schaffen eines Kunstwerkes und jede eventuell erforderliche Interpretation dieses Kunstwerkes hat nach Regeln zu erfolgen, die, im Idealfall, der Künstler selber aufstellt, an die er sich dann aber auch strikt zu halten hat. Es darf nicht so sein, dass in der Schaffung des Kunstwerkes der Weg des geringsten Widerstandes gegangen wird, indem bestehende Regeln beliebig gebrochen werden oder erst gar keine Regeln akzeptiert werden. Erst an den Grenzen „zwischen Diesseits und Jenseits“, an den sprachlich nahezu unbeschreiblichen „Wahrheiten eines anderen Seins“ eröffnet der Regelbruch als Kunstgriff einen Einblick in diese andere, jenseitige Welt. So erzielt z. B. ausschließliche Atonalität zumeist wesentlich geringere Wirkung, als ein einziger „schräger“ Akkord an passender Stelle inmitten einer tonalen „Idylle“. Es mag in Zusammenhang mit Kunst höchst eigenartig klingen, aber ich möchte hier doch anmerken, dass so ein regelloses Schaffen von Kunstprodukten sehr unwissenschaftlich wäre. Kunst im engeren Sinn folgt den gleichen Regeln wie Wissenschaft im engeren Sinn: Es werden Hypothesen aufgestellt und im folgenden Versuch wird diese Hypothese auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Die Sinnesempfindung „Liebe“ ist eine naturwissenschaftlich nie letztgültig beweisbare Hypothese, die künstlerisch immer wieder neu einer Prüfung unterzogen werden muss. Und wenn es z. B. einer Komposition gelingt, diese Hypothese mit den dafür vorgesehenen Mitteln und unter Einhaltung der Regeln insofern zu bestätigen, als der Zuhörer diese Liebe empfindet, so ist der Beweis erbracht worden, dass es Liebe gibt. Kompositionen, die so schwierige Hypothesen aufstellen und meistern, müssen natürlich auch entsprechend interpretiert werden. Denn würde der Interpret die Technikregeln der Komposition missachten oder fehl deuten, würde der innewohnenden Absicht ein schlechter Dienst erwiesen; sie würde zur Parodie verkommen. Wer kennt sie nicht, die in sinnlos rasantem oder übertrieben langsamem Tempo vergewaltigten Kompositionen eines Franz Schubert? Bezogen auf manche Interpreten könnte direkt formuliert werden: „Zeige mir die Wahl deines Tempos und ich sage dir, wes Geistes Kind du bist.“ Wobei die falsche Tempowahl ja nur ein Aspekt vielfältiger Missinterpretation sein kann. Falsche Betonungen und Akzente, nicht richtig interpretierte Crescendi und Decrescendi schwächen ebenfalls musikalische Aussagen oder kehren sie sogar ins Gegenteil um. Der schlimmste aller Frevel ist jedoch die mangelhafte Intonation. Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Aussage, dass Musik die höchste Form von Mathematik sei, stimmt. Was drückt Novalis damit aus? Dass die Abfolge von Tönen und das gleichzeitige Erklingen von Tönen in absichtlich präzisem und (dem Komponisten zumeist unbewussten) mathematischen Regeln folgendem Schwingungsverhältnis erfolgt, da nur die Präzision schwingende Tongebäude errichten lässt, die als Abbild der zugrunde liegenden Idee die Absicht des Komponisten vermitteln. Verzeihen Sie den folgenden drastischen Vergleich; aber er ist bei genauer Betrachtung zutreffend: Unsaubere Intonation vermiest im wahrsten Wortsinn die Stimmung; wie schlechter Mundgeruch den Liebeskuss. Selbstverständlich gibt es auch Musik, die unter schlechter Interpretation nicht besonders leidet. Ein Fußballschlachtgesang darf schon mal gegrölt und völlig falsch intoniert werden, weil ja gerade der falsche Ton die passende Aussage transportiert. – Je mehr sich Gefühle von hohen Idealen entfernen, umso schräger können, ja sollten sie dargestellt werden. Egoismus und Brutalität erfordern keine harmonische Darstellung. Manche Formen von Kunst, die dem Zeitgeist unterliegen, erheben keine besonderen Ansprüche an die Präzision der Wiedergabe oder die Präzision der Antizipation, weil dem Zeitgeist selbst solche Ansprüche fremd sind. Zeitlose Kompositionen, die die Vermittlung immaterieller Realitäten im Sinn haben, bedienen sich eines kompositorischen Korsetts, das ihnen regulativ und einengend vorgegeben ist, und brechen die Regeln an geeigneten Stellen zur Vermittlung unbeschreiblicher Erkenntnisse. Verständnisvolle Interpreten müssen solche Kompositionen technisch perfekt wiedergeben, damit das Resultat den Wissensdurst nach Unaussprechlichem über den siebten Sinn befriedigen kann. © Michael Paulus, 2010 |
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